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Normative und ökonomische Perspektive im Risikomanagement

Das Risikomanagement ist ein wesentlicher Bestandteil der Unternehmensführung, insbesondere im Finanzsektor. Es umfasst alle Maßnahmen zur Identifikation, Bewertung und Steuerung von Risiken. Zwei zentrale Perspektiven im Risikomanagement sind die normative und die ökonomische Perspektive. Diese beiden Ansätze bieten unterschiedliche Blickwinkel auf die Risikotragfähigkeit eines Unternehmens und ergänzen sich gegenseitig. Im Folgenden werden diese Perspektiven detailliert erläutert, basierend auf den Richtlinien der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin).

Unterschiede der normativen und ökonomischen Perspektive

Normative Perspektive

Die normative Perspektive bezieht sich auf die Einhaltung regulatorischer und aufsichtsrechtlicher Anforderungen. Diese Perspektive zielt darauf ab, sicherzustellen, dass ein Institut alle gesetzlichen Vorgaben erfüllt und damit die Fortführung des Unternehmens gewährleistet ist. Die wesentlichen Aspekte der normativen Perspektive umfassen:

  1. Regulatorische Anforderungen: Die Einhaltung der Kernkapitalanforderungen, der SREP-Gesamtkapitalanforderungen und der kombinierten Pufferanforderungen. Diese Kennzahlen und deren Berechnungslogiken werden aus dem aufsichtsrechtlichen Meldewesen übernommen und dienen als Grundlage für die Risikobewertung und Kapitalplanung​​ .

  2. Risikodeckungspotenzial: Das Risikodeckungspotenzial in der normativen Perspektive besteht hauptsächlich aus regulatorischen Eigenmitteln und weiteren Kapitalbestandteilen, die aufsichtsseitig zur Abdeckung von Kapitalanforderungen anerkannt werden. Hierzu gehören beispielsweise § 340f HGB-Reserven​​.

  3. Kapitalplanung: Institute sind verpflichtet, eine Kapitalplanung zu erstellen, die sich über mindestens drei Jahre erstreckt und jährlich fortgeschrieben wird. Diese Planung muss zukünftige Veränderungen der Geschäftstätigkeit, Markt- und Wettbewerbsbedingungen sowie rechtliche/regulatorische Änderungen berücksichtigen .

  4. Risikoarten und Risikoquantifizierung: Die Risikoquantifizierung erfolgt auf Basis der gesetzlichen Anforderungen für Adressenausfallrisiken, Marktpreisrisiken und operationelle Risiken. Dabei ist der Einjahreshorizont der Risikomessung in den aufsichtlich vorgegebenen Verfahren zur Risikomessung verankert​​ .

Die normative Perspektive dient somit dem Ziel, die Fortführung des Unternehmens zu gewährleisten, indem alle regulatorischen Anforderungen und internen Vorgaben berücksichtigt und eingehalten werden.


Ökonomische Perspektive

Die ökonomische Perspektive hingegen konzentriert sich auf die langfristige Sicherung der Substanz des Instituts und den Schutz der Gläubiger vor Verlusten aus ökonomischer Sicht. Diese Perspektive basiert auf der Methodik des Instituts und umfasst sowohl die Risikoquantifizierung als auch das Risikodeckungspotenzial auf ökonomischer Basis. Wichtige Elemente dieser Perspektive sind:

  1. Risikodeckungspotenzial: In der ökonomischen Perspektive erfolgt die Ableitung des Risikodeckungspotenzials unabhängig von den Bilanzierungskonventionen der externen Rechnungslegung. Hierbei werden bilanzielle Ansatz- und Bewertungsregeln außer Acht gelassen, die in der ökonomischen Betrachtung verzerrend wirken könnten . Es können auch stille Reserven und Lasten berücksichtigt werden, um ein realistisches Bild des Risikodeckungspotenzials zu erhalten .

  2. Barwertige Ermittlung: Die Ermittlung des Risikodeckungspotenzials erfolgt häufig barwertig, wobei der Barwert sämtlicher Vermögenswerte und Verbindlichkeiten des Instituts bestimmt wird. Auch außerbilanzielle Positionen sind hierbei zu berücksichtigen .

  3. Risikoarten und Risikoquantifizierung: In der ökonomischen Perspektive müssen sowohl erwartete als auch unerwartete Verluste quantifiziert werden. Die Risiken sind konsistent zur Definition des Risikodeckungspotenzials zu beurteilen und zu messen, meist auf einer barwertigen Basis. Kleine und wenig komplexe Institute können zur Annäherung an die ökonomische Perspektive vereinfachte Ansätze verwenden .


Case Study: Anwendung der normativen und ökonomischen Perspektive im Risikomanagement

In dieser Case Study wird ein konkretes Berechnungsbeispiel für die Anwendung der normativen und ökonomischen Perspektive im Risikomanagement einer fiktiven Bank, der „ABC Bank“, vorgestellt. Die Berechnungen basieren auf den Richtlinien der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und sollen die Unterschiede und das Zusammenspiel der beiden Perspektiven verdeutlichen.


Ausgangssituation der ABC Bank

Die ABC Bank ist eine mittelgroße Bank mit folgenden relevanten Kennzahlen (in Millionen Euro):

  • Eigenmittel (regulatorisch): 1.500 Mio. EUR
  • Risikogewichtete Aktiva (RWA): 6.000 Mio. EUR
  • Gesamtrisiko: 1.200 Mio. EUR
  • Stille Reserven: 100 Mio. EUR
  • Erwarteter Jahresgewinn: 50 Mio. EUR


Normative Perspektive – Berechnung

  1. Regulatorische Kapitalanforderungen:

    • Gesamtkapitalanforderung: 18%
  2. Berechnung der regulatorischen Kapitalanforderungen:

    • Gesamtkapitalanforderung: 6.000Mio. EUR×18%=1.080Mio. EUR6.000 \, \text{Mio. EUR} \times 18\% = 1.080 \, \text{Mio. EUR}

Risikodeckungspotenzial

  • Regulatorische Eigenmittel: 1.500 Mio. EUR

Kapitalplanung (3 Jahre)

  • Erwarteter Jahresgewinn: 50 Mio. EUR
  • Risikogewichtete Aktiva (jährliche Wachstumsrate): 5%

Szenarioanalyse (normative Perspektive)

  1. Planszenario:

    • Wachstum der RWA: 6.000Mio. EUR×1,05=6.300Mio. EUR6.000 \, \text{Mio. EUR} \times 1,05 = 6.300 \, \text{Mio. EUR}
    • Erwarteter Gewinn: 50 Mio. EUR
    • Gesamtkapitalanforderung: 6.300Mio. EUR×18%=1.134Mio. EUR6.300 \, \text{Mio. EUR} \times 18\% = 1.134 \, \text{Mio. EUR}
  2. Adverses Szenario:

    • Wachstum der RWA: 6.300Mio. EUR×1,05=6.615Mio. EUR6.300 \, \text{Mio. EUR} \times 1,05 = 6.615 \, \text{Mio. EUR}
    • Erwarteter Gewinn: 30 Mio. EUR (aufgrund wirtschaftlicher Abschwächung)
    • Gesamtkapitalanforderung: 6.615Mio. EUR×18%=1.191Mio. EUR6.615 \, \text{Mio. EUR} \times 18\% = 1.191 \, \text{Mio. EUR}


Ökonomische Perspektive – Berechnung

  1. Risikodeckungspotenzial:

    • Bilanzielle Eigenmittel: 1.500 Mio. EUR
    • Stille Reserven: 100 Mio. EUR
    • Erwarteter Jahresgewinn: 50 Mio. EUR
  2. Barwertige Ermittlung des Risikodeckungspotenzials:

    • Barwert der Vermögenswerte: 10.000 Mio. EUR
    • Barwert der Verbindlichkeiten: 9.000 Mio. EUR
    • Risikodeckungspotenzial: 10.000Mio. EUR9.000Mio. EUR=1.000Mio. EUR10.000 \, \text{Mio. EUR} – 9.000 \, \text{Mio. EUR} = 1.000 \, \text{Mio. EUR}

Risikoquantifizierung

  • Erwartete Verluste (EL): 50 Mio. EUR
  • Unerwartete Verluste (UL): 200 Mio. EUR

Szenarioanalyse (ökonomische Perspektive)

  1. Planszenario:

    • Barwert der Vermögenswerte: 10.500 Mio. EUR
    • Barwert der Verbindlichkeiten: 9.500 Mio. EUR
    • Risikodeckungspotenzial: 10.500Mio. EUR9.500Mio. EUR=1.000Mio. EUR10.500 \, \text{Mio. EUR} – 9.500 \, \text{Mio. EUR} = 1.000 \, \text{Mio. EUR}
    • Risikoquantifizierung: 50Mio. EUR(EL)+200Mio. EUR(UL)=250Mio. EUR50 \, \text{Mio. EUR} \, (\text{EL}) + 200 \, \text{Mio. EUR} \, (\text{UL}) = 250 \, \text{Mio. EUR}
  2. Adverses Szenario:

    • Barwert der Vermögenswerte: 10.200 Mio. EUR
    • Barwert der Verbindlichkeiten: 9.800 Mio. EUR
    • Risikodeckungspotenzial: 10.200Mio. EUR9.800Mio. EUR=400Mio. EUR10.200 \, \text{Mio. EUR} – 9.800 \, \text{Mio. EUR} = 400 \, \text{Mio. EUR}
    • Risikoquantifizierung: 70Mio. EUR(EL)+300Mio. EUR(UL)=370Mio. EUR70 \, \text{Mio. EUR} \, (\text{EL}) + 300 \, \text{Mio. EUR} \, (\text{UL}) = 370 \, \text{Mio. EUR}


Vergleich der Perspektiven

  • Normative Perspektive:

    • Planszenario: Kapitalanforderung von 1.134 Mio. EUR wird mit 1.550 Mio. EUR Eigenmitteln erfüllt. Ein Überschuss von 416 Mio. EUR besteht.
    • Adverses Szenario: Kapitalanforderung von 1.191 Mio. EUR wird mit 1.530 Mio. EUR Eigenmitteln erfüllt. Ein Überschuss von 339 Mio. EUR besteht.
  • Ökonomische Perspektive:

    • Planszenario: Risikodeckungspotenzial von 1.500 Mio. EUR gegen 250 Mio. EUR Risiken, “freies” Eigenkapital von 1.250 Mio. EUR.
    • Adverses Szenario: Risikodeckungspotenzial von 400 Mio. EUR gegen 370 Mio. EUR Risiken, “freies” Eigenkapital von 30 Mio. EUR.


Berechnung des nicht gebundenen Eigenkapitals

Um das nicht gebundene Eigenkapital zu berechnen, ziehen wir von den regulatorischen Eigenmitteln (EK) die Kapitalanforderungen der normativen Perspektive sowie das Risikodeckungspotenzial der ökonomischen Perspektive ab.

Planszenario

  1. Regulatorische Eigenmittel (EK): 1.500 Mio. EUR
  2. Kapitalanforderung (normative Perspektive): 1.134 Mio. EUR
  3. Risikodeckungspotenzial (ökonomische Perspektive): 250 Mio. EUR
  • Nicht gebundenes Eigenkapital: 1.500Mio. EUR1.134Mio. EUR250Mio. EUR=116Mio. EUR1.500 \, \text{Mio. EUR} – 1.134 \, \text{Mio. EUR} – 250 \, \text{Mio. EUR} = 116 \, \text{Mio. EUR}

Adverses Szenario

  1. Regulatorische Eigenmittel (EK): 1.500 Mio. EUR
  2. Kapitalanforderung (normative Perspektive): 1.191 Mio. EUR
  3. Risikodeckungspotenzial (ökonomische Perspektive): 370 Mio. EUR
  • Nicht gebundenes Eigenkapital: 1.500Mio. EUR1.191Mio. EUR370Mio. EUR=61Mio. EUR1.500 \, \text{Mio. EUR} – 1.191 \, \text{Mio. EUR} – 370 \, \text{Mio. EUR} = -61 \, \text{Mio. EUR}

Zusammenfassung

  • Planszenario: Das nicht gebundene Eigenkapital beträgt 116 Mio. EUR.
  • Adverses Szenario: Die aufsichtsrechtlichen Anforderungen werden nicht erfüllt. Es besteht eine Eigenkapitallücke von -61 Mio. EUR.


Zusammenspiel der Perspektiven

Normative und ökonomische Perspektiven sind eng verwoben und bieten unterschiedliche, aber komplementäre Blickwinkel auf die Risikotragfähigkeit eines Instituts. Ein Zusammenspiel dieser beiden Perspektiven ist notwendig, um eine gleichgerichtete Steuerung zu gewährleisten. In den Szenariobetrachtungen im Kapitalplanungsprozess der normativen Perspektive müssen auch die Risiken aus der ökonomischen Perspektive berücksichtigt werden, die einen Einfluss auf das in der normativen Perspektive zur Verfügung stehende Kapital haben .

Beispielsweise werden Credit Spread-Risiken in der ökonomischen Perspektive modelliert, schlagen jedoch erst in der normativen Perspektive durch, wenn ein Abschreibungsbedarf wegen voraussichtlich dauerhafter Wertminderung entsteht. Zinsänderungsrisiken im Bankbuch verändern den Barwert des Zinsbuches im Rahmen eines (adversen) Szenarios, was in der ökonomischen Perspektive deutlich sichtbar wird, während die Auswirkungen auf das Zinsergebnis in der normativen Perspektive geringer sein können .


Fazit

Die normative und die ökonomische Perspektive im Risikomanagement bieten unterschiedliche, aber sich ergänzende Ansätze zur Sicherstellung der Risikotragfähigkeit eines Instituts. Während die normative Perspektive auf die Einhaltung regulatorischer Vorgaben fokussiert, zielt die ökonomische Perspektive auf die langfristige Sicherung der Substanz und den Schutz der Gläubiger ab. Ein effektives Risikomanagement erfordert die Berücksichtigung beider Perspektiven, um eine umfassende und robuste Steuerung der Risiken zu gewährleisten.